Kapitel 32

Der Tod ist auch keine Lösung

Ich ging im Büro meinen anderen Aufgaben nach, als mich nach einigen Wochen mein Kunde anrief. Er erklärte mir, „in 3 Wochen veranstalte ich eine Box-Gala in der Hansehalle in Lübeck“.

Ich hielt das zuerst für einen Scherz. Denn in nur 3 Wochen eine Veranstaltung zu organisieren, in einer Halle mit rund 4.000 Plätzen bei Boxveranstaltungen, war seriös nicht zu schaffen. Dazu kam, dass es keine namhaften und bekannten Boxer im Programm gab, die die Halle annähernd füllen konnten. Erschwerend kam noch dazu, dass an diesem Abend auch live im TV ein Boxkampf von Wladimir Klitschko zu sehen war.

In der Kürze der Zeit gab so gut wie keine Chance Sponsoren zu finden, die Presse einzubeziehen und dadurch den Kartenverkauf anzukurbeln.
Also alles sprach gegen diese Veranstaltung.

In mehreren Gesprächen versuchte ich deutlich zu machen, dass nach nur einem Kampfabend, in einer kleinen Halle der Sprung in eine große Halle völlig unsinnig und finanziell gefährlich war. Er sagte mir: „Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber die Halle war nur an diesem Termin frei“.
Was für ein schlüssiges Argument.

Es nützte nichts, ich ließ mich breitschlagen, ihm dennoch weiterhin beratend zur Seite zu stehen. Aus heutiger Sicht war das ein sehr großer Fehler, denn er ignorierte in der Folgezeit alle meine Ratschläge.

In den nächsten 3 Wochen stellte sich heraus, dass er völlig beratungsresistent war. Ich sprach ihn mehrmals auf das enorme finanzielle Risiko an, ohne Erfolg. Er handelte entgegen meinen Ratschlägen.

Dann seine Bitte, auch bei dieser Veranstaltung als Ringsprecher aufzutreten. Ich hatte mir vorgenommen, bei diesem Himmelfahrtskommando im Hintergrund zu bleiben, um zu versuchen, zu retten, was zu retten war.

Und nun sollte ich an die Front.

Ich überlegte etwas länger und wollte ihn aber nicht im Regen stehen lassen und sagte zu. Meine Bedingung war, dass ich bis Donnerstag vor der Veranstaltung mein schon sehr reduziertes Honorar als Ringsprecher auf meinem Konto haben musste. Das war prinzipiell eine gute Idee.
Aber zum abgesprochenen Termin, kein Geldeingang.

Telefonisch teilte er mir mit, dass ein Sponsor zum Wiegen kommt, um ihm Geld zu übergeben. Da ich wusste, in welcher Szene er tätig war, hörte sich das noch recht plausibel an. Trotzdem hätte ich auf mein Bauchgefühl hören müssen, das mir sagte, da stimmt etwas nicht.

Ich erklärte ihm noch einmal meine Bedenken, die Veranstaltung durchzuführen. Ich machte ihn noch einmal auf die Möglichkeit aufmerksam, die Veranstaltung abzusagen, um so einen Teil der Kosten zu sparen. Nichts half.

Beim Offiziellen Wiegen war klar, ein Vorverkauf der Tickets hatte, wie von mir vorhergesagt, so gut wie nicht stattgefunden. Die Presse hatte fast nichts berichtet und das Boxprogramm war, freundlich ausgedrückt, sehr dürftig. Er hatte, wie von mir empfohlen, mit einigen Managern gesprochen, damit diese einige Kämpfe Ihrer Boxer finanzieren.

Das entlastete das Budget, denn der Manager brachte für seinen Boxer einen Gegner mit, den er auch bezahlte.

Noch gab es, bevor die Boxer über die Waage gegangen waren, als allerletzte Chance die Möglichkeit, die Veranstaltung abzusagen, um mindestens einen Teil der Kosten zu sparen.

Die Regeln beim Profiboxen besagen, dass dem Boxer seine Gage zusteht, wenn er nach der ärztlichen Untersuchung über die Waage gegangen ist. Man hätte mit allen Beteiligten ein offenes und faires Gespräch führen können und sicherlich eine Regelung finden können. Der Imageschaden wäre zwar groß gewesen, aber man hätte nach einiger Zeit weiter veranstalten können.

Die Boxer wurden untersucht und das Offizielle Wiegen stand bevor. Ich schaute ein letztes Mal den Veranstalter fragend an. Dieser letzte Ausweg wurde mit dem Hinweis verworfen „dann würde ich als Veranstalter ja mein Gesicht verlieren“.

Aber als alle Boxer gewogen waren, gab es kein Zurück mehr.

Es war die letzte Chance, mich aus diesem Chaos zurückzuziehen, was ich auch vorhatte. Doch der Veranstalter bat mich händeringend, ihn nicht im Stich zu lassen, denn das Geld sei auf dem Weg und ich würde sicher meine Gage bekommen, und er könne sicher alle Forderungen anderer begleichen.
Da ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein erwachsener Mensch freiwillig in sein finanzielles und auch persönliches Verderben rennen würde, versprach ich, als Ringsprecher aufzutreten.

Es kam, wie es kommen musste.

Ich habe die genaue Zahl nicht mehr im Kopf. Aber es müssen so um die 100 Zuschauer gewesen sein, die sich in der großen Halle versammelt hatten.
Das von mir vorhergesagte Fiasko war eingetreten.

Die Menschen, die eigentlich vor der Veranstaltung Ihr Geld bekommen sollten, wurden vom Veranstalter, mit dem mir schon bekannten Hinweis vertröstet: „Da ist ein Sponsor auf dem Weg nach Lübeck, der das nötige Geld mitbringt“. Man nahm diese Aussage zur Kenntnis.

Die Manager wollten, dass ihre Boxer boxen konnten, der kleine Verband wollte eine weitere Veranstaltung auf seiner Liste haben, die Technik hatte schon alles aufgebaut. Und wir alle vertrauten darauf, dass ein neuer Veranstalter nicht schon die 2. Veranstaltung in den Sand setzen würde, was sein endgültiges Aus in der Szene bedeuten würde.

Also ließen sich alle darauf ein.

Mein dritter Fehler, aber zu mindestens befand ich mich in guter Gesellschaft.

Ich ging in den Ring, begrüßte die wenigen Zuschauer und sagte den ersten Kampf an. Alles lief seinen normalen Gang, Kampf für Kampf wurde abgewickelt.
Während einer Pause sprach ich mit dem Delegierten neben mir über die weitere Vorgehensweise, da tippte der Veranstalter mir auf die Schulter und sagte ganz hastig „ich fahre jetzt los, das Geld zu holen“. Beruhigt setzte ich das Gespräch mit dem Delegieren fort.

Eigentlich hätte ich mir die Frage stellen müssen, wieso Geld holen, denn ich ging davon aus, dass der Sponsor wie zugesagt zur Veranstaltung kommt. Aber ich war so in den Ablauf der Veranstaltung vertieft, dass mir diese Frage nicht in den Sinn kam.

Wir alle warteten auf die Rückkehr des Veranstalters, alle wollten jetzt, bevor die Veranstaltung zu Ende ging, Geld sehen.  Nichts passierte. Mehrere Betroffene kamen zu mir mit der Frage, was denn nun mit dem Geld sei. Ich wies darauf hin, dass ich bei dieser Veranstaltung nur Ringsprecher sei und mit den finanziellen Dingen nichts zu tun hätte.
Ich versprach aber, auch im eigenen Interesse, mich über den Stand der Dinge zu erkundigen.
Und so nahm das Unheil seinen Lauf.
***
Vor dem Hauptkampf gab es eine längere Pause. Vom Veranstalter war weder was zu sehen noch zu hören. Was sollte ich tun? Es gab nur eine Person, die etwas wissen konnte, die Frau des Veranstalters.
Also ging ich hinauf ins Foyer in den Kassenbereich, wo sich die Frau des Veranstalters gemeinsam mit einer Freundin aufhielt, um die schmale Kasse abzurechnen. Das Foyer war menschenleer, und so hörte ich schon auf der Treppe nach oben ein heftiges Weinen.
Die Frau des Veranstalters lag in den Armen ihrer Freundin und rief immer wieder, „warum hat er das getan“. Ich war ratlos und bezog das erst einmal auf die Tatsache, dass mein Kunde, Ihr Mann, diese Veranstaltung gegen alle guten Ratschläge und Warnungen durchgeführt hat.
Aber es sollte anders kommen.
Ich hatte plötzlich ein sehr ungutes Bauchgefühl, mir schwante Böses, aber mit dem, was mir dann erklärt wurde, hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Die Frau des Veranstalters klärte mich unter Tränen auf. Ich war völlig verblüfft und geschockt, ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.
Es seien Polizisten gekommen und hätten ihnen gesagt, dass ihr Mann gegen einen Brückenpfeiler gerast sei und dabei tödlich verletzt wurde.  Die Polizei gehe davon aus, dass es sich um einen Selbstmord handeln würde, da keine Bremsspuren vorhanden waren.
Ich war geschockt und zutiefst getroffen. Es herrschte mindestens eine Minute betroffenes Schweigen. Warum hatte dieser Mensch nicht mit mir gesprochen, ging mir durch den Kopf.
Ich wusste aus eigener Erfahrung, einmal vom Tod abgesehen, gibt es für jedes Problem eine Lösung.
So sicherlich auch in diesem Fall. Ich stammelte so etwas wie „mein herzliches Beileid“ und ließ die Frauen im Foyer zurück. 
Beim Weg zurück in die Halle schossen mir viele Gedanken durch den Kopf. Natürlich tat mir dieser Mann leid, der offensichtlich keinen Ausweg mehr gesehen hatte. Ich erinnere mich gut, wie ich ganz langsam die Treppe zum Parkett herunterging und händeringend überlegte, was ich tun und sagen sollte. Ich hatte in diesem Moment keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Es musste eine Lösung für dieses verdammte Problem geben.
Ich rief alle Betroffenen am Ring zusammen. Auf dem Weg zu den Gesprächspartnern waren alle Augen auf mich gerichtet. Jeder rechnete damit, dass es von mir die frohe Botschaft gab, jetzt gibt es das Geld.
Ich holte tief Luft und versuchte noch etwas Zeit zu schinden, denn ich wusste immer noch nicht, wie ich die Situation klären konnte. Ich versuchte dann in aller Ruhe die Situation zu schildern und gab wieder, was die Frau des Veranstalters geschildert hatte. Alle waren geschockt.

Aber dann wurde heftig und hitzig diskutiert. Wie sollte es weiter gehen, bekamen wir unser Geld oder Teile davon, etc. Wir versuchten, eine Lösung zu finden.
Ich erklärte mich bereit, noch einmal mit der jetzt zur Witwe gewordenen Ehefrau zu sprechen, um die Angelegenheit zu klären. Also wieder ab ins Foyer.
Die Situation hatte sich scheinbar etwas beruhigt und ich bekam die Zusicherung, dass die offenen Rechnungen innerhalb von 3 Monaten beglichen werden könnten, denn „es gäbe ja regelmäßige Einnahmen aus der Vermietung der Wohnungen“. Der Hinweis auf die regelmäßigen Einnahmen war für mich ein schlüssiges Argument.

Zurück zu den Betroffenen, kurze Diskussion und unter dem Motto – die Hoffnung stirbt zuletzt –stimmten schließlich auch die anwesenden Personen zu. Nachdem ich mich etwas gefasst hatte, ging ich in den Ring, informierte die Zuschauer und erklärte die Situation.
Betroffenes Schweigen.

Dann folgte noch eine Gedenkminute mit dem mehrmaligen Schlagen der Ringglocke.

Alle waren bestürzt und tief betroffen. Die Veranstaltung wurde abgebrochen.

Ich ging noch einmal zu der Witwe und bot meine Hilfe an. Ich stieg ins Auto und fuhr durch die Dunkelheit der Nacht nach Hause. Damit könnte die Geschichte, schlimm genug war ja alles, eigentlich zu Ende sein.

Aber das Leben hält so viele Überraschungen und Wendungen bereit, so auch dieses Mal.

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