Wie der Tiger zum Tiger wurde
Spitz- oder Kampfnamen werden nicht nur in der Sportwelt gerne benutzt. Das geht schon in der Schule los und endet nicht im Berufsleben.
Einige Namen sind schmeichelhaft, andere nicht.
In der Sportwelt erfüllen diese Spitznamen aber einen Sinn, sie sollen den Sportler charakterisieren, aus der Menge der anderen Sportler herausheben.
Bei Gerd Müller war das „der Bomber der Nation“, bei Uwe Seller hanseatisch, kurz „uns Uwe.“ Dabei ist es wichtig, die richtigen Spitznamen zu finden, die zum Sportler passen. So war bei Henry Maske der Spitzname Gentleman passend, denn z.B. „Mr. Knockout“ wäre sicherlich nicht zu vermitteln gewesen.
Wichtig ist es auch nicht nur den Kampfnamen zu initiieren, sondern auch dafür zu sorgen, dass er vom Sportler akzeptiert und von den Fans und der Presse übernommen wird. Der Kampfname muss also passen, kurz und präzise sein.
So war Juan Carlos Gomes „the black Panther“ aufgrund seines Kampfstiles, seiner Stärke und Geschmeidigkeit. Artour Grigoryan war „König Artour“ der jahrelange König seiner Gewichtsklasse. Markus Bott hatte immer einen flotten Spruch auf den Lippen und man nannte ihn daher, Markus „Cassius“ Bott.
Wie kommt es zu einer Namensgebung und wie wird sie durchgesetzt? Am besten mit einer optischen Darstellung.
Leider kann man nicht alle guten Ideen durchsetzen. So hatten wir geplant beim Walk-In von Juan Carlos Gomes einen jungen schwarzen Panther an einer Leine an seiner Seite zu haben. Entsprechende Berichte in den Medien wären garantiert gewesen, der Kampfname wäre in aller Munde gewesen. Dies wurde von der entsprechenden Behörde jedoch nicht genehmigt.
Ebenso ein Versuch beim Walk In mit Dariusz und einem jungen Tiger an der Leine.
Also musste im Fall von Dariusz ein anderer Weg beschritten werden.
Dariusz Michalczewski hatte schon die ersten Erfolge als Profiboxer erzielt, als wir uns im Management zusammensetzten, um einen Kampfnamen zu finden.
Am besten macht man das gemeinsam mit einer auflagenstarken Zeitung. Uns kam entgegen, dass die Chefredaktion und auch die Sportredaktion der Bildzeitung damals in Hamburg angesiedelt waren. Außerdem gab es zu den Sportjournalisten, die dort zwischenzeitlich vermehrt über Boxen berichteten, einen sehr guten persönlichen Kontakt.
Also wurde, gemeinsam mit dem Bild-Redakteur Wolfgang Weggen, der Tiger geboren und die Bildzeitung verwendete den Kampfnamen „der Tiger“ bei Ihrer Berichterstattung.
Wichtig ist es aber auch, dass der Sportler zu seinem Kampfnamen steht und ihn, wenn möglich, interpretiert. Dariusz tat das durch das Fauchen in die Kameras und Fotolinsen.
Das Bild ist allen Fans sicherlich noch in Erinnerung.
Nun hieß es aber auch den Spitznamen ins Bild zu setzen. Für die Presse mussten spektakuläre Bilder erstellt werden und auch die Autogrammkarten mussten neugestaltet werden.
Also was tun?
Die erste Idee Dariusz vor dem Freigehege der Tiger im Tierpark Hagenbeck zu fotografieren war schnell vom Tisch. Nicht spektakulär genug.
Fotos mit einem Stofftiger erfüllten ebenfalls nicht ihren Zweck. Dariusz mit einem kleinen Babytiger, süß, aber auch nicht das, was wir wollten.
Ich habe damals bundesweit viel herumtelefoniert und einige Möglichkeiten gefunden und auch gleich wieder verworfen. Natürlich haben wir Dariusz aus allen diesen Bemühungen herausgehalten, um ihn in seiner Vorbereitung auf den nächsten Kampf nicht zu stören.
Die Zeit drängte und ich hatte keine Lösung. Wie so oft im Leben brachte ein Zufall die Lösung.
Eines Morgens las ich in der Zeitung, dass ein Zirkus in der Stadt war. Dieser Zirkus hatte eine Hauptattraktion, eine Tierdressur.
Ein dressierter, noch nicht ganz ausgewachsener Tiger, das könnte die Lösung sein. Vor meinem geistigen Auge erschien ein Tiger, der sich fauchend hinter Dariusz aufrichtete. Was wären das für spektakuläre Bilder.
Aber so schön dieser Gedanke war, unmöglich, wer würde sich schon auf so ein Risiko einlassen.
Trotzdem setzte ich mich spontan ins Auto, fuhr zu dem Zirkus, der seine Zelte gerade aufbaute und sprach erst mit dem Zirkusdirektor. Der hörte sich meinen Wunsch an und sagte, das sei eine Frage für den Dompteur, der könne einschätzen, welcher Tiger infrage käme und ob dies überhaupt möglich sei.
Also auf zum Dompteur.
Ich fand ihn in der Nähe einiger Zirkuswagen. Als ich ihn ansprach, hörte ich das wilde Fauchen einiger Tiger. Auch bei dieser Aktion würde eine Win-win-Situation entstehen. Ich hatte trotzdem damit gerechnet, mir eine Absage einzuhandeln,
Aber es kam anders.
Ich konnte den Dompteur überzeugen und er sagte: „Da habe ich schon eine Idee. Ich habe einen jüngeren Tiger, der käme dafür infrage.“
Wir machten uns also auf den Weg zur Vorderseite der Zirkuswagen. Als wir am ersten Wagen vorbeikamen, blieb ich stehen und sah mir die niedlichen kleinen Tiger an. Sie hatten ungefähr die Größe unseres Schäferhundes und sahen dennoch gefährlich aus.
Wenn sie schon dressiert waren, konnte nicht viel passieren, dachte ich gerade, als ich die Stimme des Dompteurs hörte „nicht stehen bleiben, kommen Sie hier her zu mir.“
Verblüfft ging ich einige Schritte weiter zum nächsten Wagen. Dann blickte ich völlig überrascht in den zweiten Käfig, in große gelbliche Augen, die mich anstarrten. Ich habe den Namen des Tigers leider vergessen, aber der Dompteur sagte voller Stolz und Liebe:
„Das ist mein Lieblingstiger“, während ich immer noch in die großen Augen des Tigers schaute.
Und dann öffnete sich mein Blick und ich sah ihn in seiner ganzen Größe und Schönheit direkt vor mir, sich am Gitter reibend.
Es bot sich mir ein faszinierender Anblick.
Ich hatte mich zwar vorher informiert und gelesen, dass männliche erwachsene Tiger zwischen 2,50 und 3,90 lang sein können und zwischen 90 und 310 kg wiegen können. Dieser Tiger lag da so ungefähr in der Mitte.
Aber einen, wie ich später erfuhr, fast ausgewachsenen Tiger in der Wirklichkeit vor mir zu sehen, nur durch die Gitterstäbe getrennt, ließ mir den Atem stocken. Er fauchte wild und ich spürte seinen Atem.
Ein wunderschönes Tier, das mit dem typischen geschmeidigen Gang jetzt immer am Gitter entlang spazierte, mich nie aus den Augen lassend. Ich hatte das Gefühl, dass er dachte, wie der wohl schmeckt.
Der Dompteur sah wohl meinen etwas furchtsamen Blick und sagte lachend: „Dann muss ich ihm wohl mal was zu beißen geben“.
Und schon bekam er einen großen fleischigen Knochen in den Käfig geschoben. Mein neuer Freund biss hinein und es war das Geräusch zersplitternder Knochen zu hören. Und ich war froh, dass es die Gitterstäbe gab.
Immer wieder blickte mich der Tiger an.
„Ich glaube, er mag Sie“, sagte der Dompteur lachend, ich war mir da nicht so sicher. „Er ist zwar noch nicht ganz ausgewachsen, aber er ist lammfromm, wir könnten den doch fürs Foto nehmen“.
Lammfromm, na ja, die Botschaft hörte ich wohl, allein mir fehlte in diesem Moment der Glaube. Auch sein Hinweis, er werde den Tiger vor dem Termin füttern und er bekommt sein Lieblingsfleisch, konnte mich nur bedingt beruhigen. Denn vielleicht gab es auch bei einem Tiger den Unterschied zwischen Appetit und Hunger.
Dann wurden wir uns schnell einig. Ich glaube, heute hätte ich dieses Angebot abgelehnt, denn heute wäre mir das Risiko zu groß. Aber damals, 1992, vor fast 30 Jahren, habe ich das wesentlich lockerer gesehen.
Nachdem mir der Dompteur versichert hatte, dass die ganze Aktion unter bestimmten Bedingungen völlig ungefährlich wäre, habe ich nach Rücksprache mit meinem Chef, zugesagt.
Die Bedingungen waren folgende:
Nur ein Fotograf und ich etwas vom Käfig entfernt. Völlige Ruhe. Anweisungen an Dariusz nur mit ruhiger Stimme, in und außerhalb des Käfigs, der im Zirkuszelt stand, keine hektischen Gesten.
Dariusz sollte im Käfig in Boxerpose im Ring stehen, davor der Tiger auf den Hinterbeinen aufgerichtet. Dariusz muss ruhig stehen, keine schnellen Bewegungen, kein Wort.
Dann konnte nichts passieren.
Der Trubel mit vielen Pressefotografen wäre, sagen wir mal, „kontraproduktiv“ gewesen. Daher habe ich mich entschieden, den Absprachen folgend, nur einen freien Fotografen mitzunehmen, der die Fotos an die Medien verkaufen sollte. Ich buchte Eduard Pawelczyk, einen mir gut bekannten älteren und sehr ruhigen Fotografen, der schon viel mitgemacht und erlebt hatte.
Am Tag darauf war der Fotograf bestellt und die Presse über die bald eingehenden Fotos informiert.
Ich holte Dariusz, wie immer bei offiziellen Terminen, von zu Hause ab. Ich glaube, er wohnte mit seiner Familie damals noch im Gartenhaus auf dem Grundstück von Klaus Peter Kohl in Stellingen.
Auf der Fahrt zum Zirkus erklärte ich Dariusz, was passieren würde und welche Absprachen es gibt. Ich erwähnte noch einmal den kleinen Tiger.
Man muss wissen, dass auch wir oft gegenseitig ein Späßchen machten und uns ein bisschen auf die Schippe nahmen.
Dariusz hatte am Vortag das, in einem anderen Zusammenhang, auch bei mir versucht.
Was war passiert?
Bei Presseterminen, in diesem Fall im Fernsehstudio, gab ich genaue Anweisungen, welche Kleidung getragen werden sollte. Das hatte auch damals schon mit dem Ausrüster für die Trainingskleidung und Sponsoren zu tun. Er wusste genau, dass ich in diesem Punkt sehr genau war und es sehr genau nahm, denn wir wollten ja niemanden verärgern. Und ich wusste, dass genau dies meine Boxer nervte.
Dariusz stieg bei mir im Auto ein und hatte nicht das angezogen, was er sollte. Da ich unsere Spielchen kannte, unterdrückte ich meine spontane Reaktion und tat erst einmal so, als sei nichts geschehen. Ich blieb ruhig und reagierte nicht so, wie von Dariusz gewünscht und erwartet.
Als er merkte, dass ich nicht reagierte, zog er seine Tasche heran und sagte grinsend: „Keine Panik, die Klamotten sind da drin“. So ging das immer mal hin und her. Wir lachten immer gemeinsam über unsere Späße.
Ich hatte alles getan, ihn vorzubereiten, alle Absprachen weitergegeben.
Wir fuhren direkt zum Zirkus.
Dariusz zog sich um, der Dompteur begrüßte ihn und sagte: „Du weißt Bescheid? Er erklärte ihm noch einmal, ruhig stehen bleiben, Boxpose einnehmen und was auch geschieht, nicht bewegen oder reden.
Aus späteren Gesprächen weiß ich, dass er mir das mit dem großen Tiger bis zum Schluss nicht geglaubt hat.
Da er also immer noch davon ausging, dass ich mit meinem Hinweis „es ist ein großer Tiger“ völlig übertrieben hatte, stand er völlig entspannt in Boxerhaltung im Tierkäfig.
Dann kam der Dompteur mit dem Tiger in den Käfig.
Der Tiger schritt langsam, geschmeidig und gemessenen Schrittes durch den Käfig. Man sah den schleichenden, lauernden Gang des Tigers, der, so hatte ich den Eindruck, Dariusz fest im Blick hatte.
Ich gebe zu, mein Herz schlug schneller und mir wurde doch etwas mulmig. Ich dachte noch hoffentlich hat der Dompteur daran gedacht dem Tiger sein Lieblingsessen zu geben, damit er satt und zufrieden ist.
Aber jetzt war es zu spät, da hieß es einfach Nerven bewahren.
Besonders für Dariusz, aber der wusste ja noch nicht, wer da gleich hinter ihm stehen würde.
Wir waren durch das Gitter des Käfigs gut geschützt, aber Dariusz nicht.
Und dann passierte es.
Der Tiger war im Rücken von Dariusz in den Ring gekommen und erschien nun im Blickfeld von Dariusz.
Und genau in diesem Moment konnte ich an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass ihm schlagartig klar wurde, dass das mit dem kleinen Tiger Scherz von mir war. Ich sah das, während neben mir der Verschluss der Kamera klickte.
Sekundenlang blieb mir das Herz stehen, während der Dompteur beruhigend auf den Tiger einsprach. Doch Dariusz bewahrte Ruhe, machte das, was wir abgesprochen hatten.
Der Dompteur gab einen Befehl und der große Tiger richtete sich auf den Hinterbeinen auf, ca. 1 Meter vor Dariusz.
Ich glaubte die Schweißperlen auf der Stirn von Dariusz sehen zu können, doch der blieb ruhig in Boxerpose stehen.
Ich hatte das Gefühl, dass wir so rund 10 Minuten vor dem Käfig standen. Aber es waren wohl nur 2 Minuten. Immer noch hatte ich die Befürchtung, dass irgendetwas passieren würde.
Und es passierte wirklich etwas.