Kapitel 5

Mein Schwärzester Moment

Mit dem Glockenschlag brach die Hölle los.

Es war ein unbeschreibliches Geräusch, von den Rufen und Schreien der Zuschauer getragen. Beide Fangruppen, fast gleichstark, feuerten jeweils Ihre Boxer an, es war unbeschreiblich laut. Die beiden Fangruppen versuchten, einander zu übertönen. Es ist auch heute noch sehr schwierig, diese durch das Stadion wabernden Emotionen von 28.000 Zuschauern zu beschreiben.

Es hing Feindseligkeit in der Luft, im Ring, aber auch im gesamten Stadion. Die Stimmung war auch außerhalb des Ringes sehr aggressiv.
Es war eine Stimmung, die niemanden in diesem Stadion und wahrscheinlich auch niemanden vor den Fernsehgeräten kaltließ.

Ich war wie immer emotional auf der Seite unseres Boxers, auf der Seite von Dariusz. Ich hatte schon viele Kämpfe von ihm direkt am Ring sehen können und so wunderte es mich nicht, dass in den ersten 4 Runden Graciano dominierte. Das war normal in den Kämpfen von Dariusz.
Er war ein sehr intuitiver Boxer, der sich in den ersten Runden den Gegner ansah und seine Schwachstellen herausfand. Ab Runde 4 oder 5 bestimmte er dann das Geschehen im Ring.

Normalerweise wurde dann der Tiger in Dariusz wach. Doch diesmal warteten die Fans und ich vergeblich auf diesen Effekt. Graciano blieb weiter der Chef im Ring, wahrscheinlich auch, weil Dariusz sich immer wieder auf den Infight einließ.

Es war ein packender, sehr harter Kampf von beiden Boxern, die einander nichts schenkten.
Nach der 6. Runde, das war mir und allen im Stadion sowie vor den Fernsehgeräten klar, führte Graciano nach Punkten.
Und dann kam die 7. Runde, eine Runde mit vielen Schlägen und Treffern auf beiden Seiten. Und Dariusz machte etwas, was ich in dieser Form von ihm noch nie gesehen hatte; er klammerte häufig.
Das war 55 Sekunden vor dem Ende der Runde auch wieder der Fall. Der amerikanische Ringrichter rief Break, ging mit ausgestrecktem Arm zwischen die Boxer und Sekunden nach dem Break traf die Faust von Graciano Dariusz am Kopf.

Dieser war auf diesen Schlag, nach dem Break des Ringrichters, nicht mehr vorbereitet. Seine Körperspannung hatte automatisch nachgelassen. Normalerweise atmete man dann zwei bis drei Mal tief durch und konzentrierte sich wieder auf den Kampf. 
Bis zu diesem Zeitpunkt lief alles normal ab, Dariusz, vom Schlag unvermutet getroffen, ging zu Boden. Um mich herum wurde es auch am Tisch der Offiziellen hektisch und laut. Alle waren aufgesprungen.

Die Universum-Crew schrie in den Ring hinauf, Disqualifikation, denn das war nach den geltenden Regeln das Urteil.
Der Supervisor versuchte zum Ringrichter Kontakt aufzunehmen. Aber der brach den Kampf nicht ab, obwohl jeder im Stadion und an den Fernsehgeräten gesehen hatte, dass der Schlag nach dem Break erfolgte.
Der Ringrichter beorderte Graciano in die neutrale Ecke. Dann begann er, zur Verblüffung vieler Zuschauer zu zählen.

1,2, Dariusz versuchte hochzukommen,
3,4, er hing in den Seilen
5, 6 und saß dann wieder am Boden.
7, 8, der Ringrichter hörte auf zu zählen.

Verblüffung am Tisch mit dem Offiziellen, bei den Zuschauern und bei Graciano und seinem Team. Warum er aufgehört hat zu zählen, wird auch mir für immer unverständlich bleiben.

Anzählen
Die Regel besagt, entweder der Ringrichter entscheidet, dass es sich um einen irregulären Schlag, also um ein Foul handelt und sanktioniert das, indem er z. B.  den schlagenden Boxer verwarnt oder wenn der getroffene Boxer nicht weiter boxen kann, den Kampf abbricht.
Oder er zählt, wenn er entscheidet, dass es sich um einen regulären Treffer handelt, bis 10 und der Kampf ist entschieden.

Hier aber wurde das Zählen nach der Zahl 8 abgebrochen. Dieses Verhalten hat alle irritiert und auch dazu geführt, dass sofort ein noch größeres Chaos ausbrach. Der Ringrichter hatte eigentlich nur eine Entscheidung zu treffen, begann der Schlag erst nach dem „Break“ oder war der Schlag schon vorher unterwegs.
Am Tisch des Supervisors, im Ring, im Stadion und auch bei den Fernsehleuten herrschte totale Verwirrung.
 
Supervisor
Besonders in derartigen schwierigen Fällen ist der Supervisor, auf Deutsch Delegierter, gefragt.
Er ist der Vertreter des ausrichtenden Verbandes und hat für die ordnungsgemäße Durchführung des Kampfes nach den Regularien des jeweiligen Verbandes zu sorgen.

Niemand wusste, was los war. Auch ich nicht, ich war gespannt, was jetzt passieren würde. Noch war ich ruhig und konzentriert, obwohl ich mir natürlich Sorgen um Dariusz machte.
Um mich herum wurde es immer lauter. Graciano schrie den Ringrichter an und war fassungslos. Er fragte, warum dieser nicht bis 10 weiter gezählt hat. Die Fans von Graciano beschuldigten Dariusz ein Schauspieler zu sein und es gab viele böse Worte, auch unter den Zuschauern.

Die Stimmung wurde immer aggressiver.
Der Ringrichter diskutierte minutenlang mit dem Offiziellen des Weltverbandes. Es vergingen Minuten um Minuten und die Aggressivität unter den Zuschauern nahm noch mehr zu. Der Regisseur sagte mir immer wieder, „Hol dir das Urteil und mach irgendwas, damit das hier nicht aus dem Ruder läuft, wo bleibt das Urteil“. Aber ich hatte kein Urteil und keine Chance, das mit dem Urteil zu beschleunigen, und ich gebe zu, dass mich diese Situation jetzt doch etwas nervös machte.

Ich fragte mich, habe ich jetzt eine Chance, mit einer Erklärung die Zuschauer etwas zu beruhigen.
Die Minuten verstrichen, ohne dass es eine Entscheidung gab. Und dann entschloss ich mich, ungewöhnlicherweise ohne das offizielle Urteil, in den Ring zu gehen.

Mein erster Fehler am heutigen Abend, denn mir hätte bei meiner Erfahrung klar sein müssen, dass sich dieses Publikum nicht beruhigen lässt.

Zu den Aufgaben eines Ringsprechers gehört nicht nur die Vorstellung der Boxer und der Offiziellen, sondern er muss zwingend auch durch seine Fachkenntnisse und seine Erfahrung in der Lage sein, auf derartige Situationen richtig zu reagieren.
Ich kann mir zugute galten, dass ich bei den vielen Veranstaltungen und Boxkämpfen, bei denen ich als Ringsprecher tätig war, in ähnlichen Situationen immer ruhig und richtig gehandelt habe. Glücklicherweise ist es mir vor und nach diesem denkwürdigen Abend nie wieder passierte, so grundlegend falsch zu handeln.

Doch an diesem Abend war alles anders.

Auf dem Weg in den Ring, durch Zuschauer hindurch, die mich, obwohl ich ja nichts für die Situation konnte, wüst beschimpften, versuchte ich einen klaren Kopf zu behalten.

Ich überlegte, was ich sagen wollte, um die Gemüter ein wenig zu beruhigen, denn es war absehbar, dass es mit dem Urteil noch einige Minuten dauern würde.
Im Ring angekommen, hatte ich mehrere gute Optionen für eine kurze Information des Publikums im Kopf. Ich hörte den Regisseur aufgeregt nach dem Urteil rufen, um mich herum und außerhalb des Ringes herrschte weiterhin das reine Chaos. Ich versuchte, mich zu sammeln und zu konzentrieren, und holte tief Luft.
Und dann passierte es. Es herrschte absolute Leere in meinem Kopf. Ich wusste in diesem Moment nicht mehr, was ich sagen wollte. Glücklicherweise ist mir das später nie wieder passiert.

Wieder meldete sich aufgeregt der Regisseur.

Und dann beging ich den zweiten Fehler des Abends. Ich wählte, warum auch immer, die offensichtlich falsche Aussage, um das Publikum zu beruhigen.
Meine ersten Worte: „Meine Damen und Herren, liebe Boxsportfreunde, wir haben bisher einen guten und ausgeglichenen Kampf gesehen“. Welch ein Fehler mit fatalen Folgen. Kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, fragte ich mich entsetzt, oh Gott, was hast Du da gerade gesagt.

Bei einem persönlichen Gespräch ist so ein Fehler schon peinlich genug, besonders dann, wenn man es an der Reaktion seines Gegenübers merkt. Hier war es aber nicht nur ein Gegenüber, es waren 28.000 entrüstete Zuschauer im Stadion und viele Millionen Fernsehzuschauer.

Die Hölle brach über mich hinein, ein Pfeifkonzert brannte mir in den Ohren und zum Glück konnte ich die Rufe der Zuschauer nicht deutlich hören. Ich hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen, das Gefühl des totalen Versagens. Ich spürte, die Zeit bleibt für einen Moment stehen und ich wäre gerne „im Boden versunken“.

Aber der Boden tat sich nicht auf, ich konnte nicht fliehen.

Und zur Krönung dieser äußerst peinlichen Situation hörte ich den Regisseur ganz unaufgeregt sagen „welchen Kampf hast Du denn gesehen, warst Du in einem anderen Stadion?“

Ich weiß bis heute nicht, welcher Teufel mich geritten hat, das zu sagen, denn auch ich hatte natürlich gesehen, dass der Kampf nicht ausgeglichen war.
Wahrscheinlich wollte ich beide Seiten damit beruhigen, aber natürlich war das Gegenteil der Fall.

Ich hatte keine Chance mehr, wie eigentlich geplant, die sachliche Information zu vermitteln.

Ich hatte mir vorgenommen, das Regelwerk der WBO zu erklären, aber das war jetzt nicht mehr möglich.

Was ich damals noch nicht wusste, es würde nicht mein letzter Fehler an diesem Abend sein.

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